Es gibt verschiedene Ebenen. Mein persönliches Leben und das meiner Kinder hat sich während Corona eigentlich eher positiv entwickelt. Der Frühling während des Lockdowns war traumhaft. Wir waren absolut privilegiert. Wir leben in einer Genossenschaftssiedlung am Waldrand. Ich habe meinen Kindern oft gesagt, sie müssten sich bewusst sein, dass es in Mailand Kinder gibt, die in einer Stadtwohnung eingesperrt sind. Meine Kinder haben ihre Tage im Wald verbracht, in kompletter Freiheit.
Währenddessen habe ich im Atelier mein Fotoarchiv aufgeräumt. Natürlich hatte ich keine Aufträge mehr, aber staatliche Mittel von der Kulturförderung. Ich hatte einen Film im Kino gehabt – meinen ersten, der gut lief. Dann kam der Lockdown. Die Plakate waren schon gedruckt. Die Inserate in den Zeitungen waren schon bezahlt.
Das war schon krass. Von 100 auf 0. Keine Aufträge mehr. Leere Tage. Eine leere Agenda. Das war sehr speziell – aber ich habe es insgeheim auch genossen. Ich habe gedacht, das kommt dann schon wieder. Es ist krass, dass es mich heute an den Punkt gebracht hat, wo ich vor einer Geschäftsaufgabe stehe oder mich noch einmal erfinden muss – Flucht nach vorne. Dass das bis heute Bestand hat.
Was man auch sagen muss: Meiner Mutter hat Corona den Lebensabend versaut. Sie ist 2022 mit Exit aus dem Leben geschieden. Mir hat das Leid getan, sie wär gerne noch einmal nach Griechenland – und vieles mehr. Sie ist nicht auch mehr in die Badi wie sonst jeden Sommer. Ich kenne noch einige, denen es gleich erging. Manchmal denke ich, zum Glück hat das mein Vater nicht mehr erleben müssen. Das hätte ihn grausam angeschissen.
Trotz alldem war es eine kleine Krise. Auf meinen fotografischen und beruflichen Reisen habe ich grosse Krisen erlebt. Bei Corona haben die Leute hysterisch reagiert, aber eigentlich war es eine Gesundheitskrise. Man hat ein paar Regeln bekommen. Wie man sie auch am Skilift befolgen muss. Wie man sie in jedem Restaurant beachten muss. Beim Fliegen sowieso. Aber die Leute hatten das Gefühl, jetzt ist es krass, jetzt will uns der Staat etwas vorschreiben. Das hat für mich etwas Infantiles gehabt.
Für mich war klar, mich als einer der ersten für die Impfung anzumelden. Ich fand es super, dass es die gab. Ich kenne aber Leute, die sich bis heute nicht gegen Corona impfen lassen haben. Wenn sie reisen, lassen sie sich gegen alle möglichen Tropenkrankheiten impfen. Man will ja die Elefanten sehen. Aber gegen Corona wollen sie sich nicht impfen. Ein Kritikpunkt war die mRNA. Aber das gibt es auch schon seit den 90er Jahren – und wir leben noch.
Für mich war Corona eine kleine Krise, die aber doch dazu geführt hat, dass ich mich noch einmal neu erfinden musste. Es war schon das dritte Mal. Das erste Mal war der Berufseinstieg gewesen. Ich wusste nicht genau, was ich wollte. Alle haben mich ausgelacht, als ich gesagt habe, ich will Fotograf werden und um die Welt reisen. Ich wurde Fotograf, war privilegiert und reiste um die Welt. 2015 habe ich realisiert, dass das fotografische Tagesgeschäft für Zeitungen, Magazine und internationale Kunden langsam wegbrach. Stichwort: Medienkrise. Ich habe viel Geld in die Hand genommen für eine Videoausrüstung und neue Kunden gewonnen. Wie zum Beispiel die Caritas Schweiz, für die ich sehr tolle, spannende Aufträge machen konnte.
Dann kam die Pandemie und alle regelmässigen Auftraggeber hatten keinen Bedarf mehr für meine Arbeit. Entweder hatten sie kein Geld mehr, führten Anlässe nicht mehr durch, oder haben sich – wie die Caritas – auch neben dem Sparen anders organisiert. Da sage ich: fair enough. Wenn sie jemanden in Bamako brauchen, fliegen sie jemanden aus Nairobi ein, nicht aus Zürich. Die Konkurrenzsituation hat damit jemand anderes gewonnen. Das hiess für mich aber, ich musste mich noch einmal neu erfinden.
Ich hatte dann also vom Staat Geld bekommen und hatte Zeit. Meine Frau hat mich immer gepusht: Ruf doch mal die Hochschule an, die nehmen Dich schon. Ich habe ja keine Matura, geschweige denn einen Bachelor. Ich bin eigentlich Schulversager – Sekundarschulabsolvent, ich habe nicht einmal eine Lehre gemacht. Da habe ich Studienleiter Fred Truniger vom Master Film angerufen. Und er meinte, auf das Dossier kommt es an. Das hat dann geklappt, sie haben mich genommen. Dann habe ich in drei Jahren meinen Master of Arts in Film gemacht.
Jetzt habe ich wieder einen Film im Kino, das ist sehr toll. Am Mittwoch ist Premiere. Das ist meine Flucht nach vorne. Ich hatte mich um viele Stellen beworben und mich wirklich bemüht um Festanstellungen. Aber wer stellt schon jemanden ein, der zwanzig Jahre lang selbständig gewesen ist? Es ist schon ein Manko, keine Zeugnisse zu haben. Ich probiere es jetzt noch einmal im freien Film. Ich habe bald einen Pitch für SRF Dok, mal schauen was daraus wirkt. Vielleicht habe ich noch ein anderes Projekt.
Ich bin mir nicht zu schade, bei den Kinos die Klinken zu putzen, das ist ein Job. Man muss bei den Kinos anrufen, pickeln und nett sein. Irgendwann geht es – und dann kommen die anderen auch. Medienarbeit ist auch wichtig. Da ist ein toller Bericht heute in der Luzerner Zeitung – sehr wichtig, weil ich kein Werbebudget habe. Medien sind ein toller Multiplikator. Sie brauchen immer noch Themen. Sie brauchen keine Fotografen mehr – aber Themen kann ich ihnen liefern.
Die Coronakrise hat so viele Facetten. Vielleicht ist es gar nicht schlecht, dass wir in der Schweiz einmal eine Situation erlebt haben, die nicht der alltäglichen entspricht. Dass wir lernen konnten, dass der Weg nicht einfach gepflastert ist. Wir müssen auch mit dem Unbekannten umgehen lernen. Für Menschen in anderen Ländern ist das der bittere Alltag. Eine Erkenntnis war, wie infantil gewisse Leute reagieren auf gewisse Regeln. Das sollten wir doch im Kindergarten gelernt haben.
Ich war vielleicht auch naiv und habe nicht genug vorausgedacht. Ich habe gedacht, das geht vielleicht wieder vorbei. Ich habe nachgeschaut, wie lange das damals bei der Spanischen Grippe dauerte. Was ich nicht gedacht habe ist, dass ich nachhaltig und für immer das Geschäft verliere. Das ist die bittere Erkenntnis. Aber in welchem anderen Land Aber in welchem anderen Land ausser der Schweiz bekommt man schon finanzielle Unterstützung vom Staat? Das hat mir das Jahr und das Studium ermöglicht. Das sehe ich als grosses Geschenk, als grosser Luxus, als Privileg. Aber nachhaltig ist es nicht, bei drei Jahren weniger Verdienst.
Es gibt nicht nicht die eine Facette von Corona. Die Erfahrung gemacht zu haben ganz allein in einem Zug zu sitzen. Die leere Agenda. Die leere Kapellbrücke. Das hatte auch etwas Tolles. Etwas von Krisenromantik. Das tönt vielleicht seltsam, aber ich war als sehr junger Fotograf 1995 zwei Wochen vor dem Dayton-Abkommen in Bosnien. In der Nacht wurde noch geschossen. Die Leute liefen in Sarajewo hinter einem UNO-Schützenpanzer über die Strassen. Das war in der Scharfschützen-Allee, wo ich fotografiert habe. Die Stimmung war wahnsinnig schön. Das habe ich auch im Kosovo erfahren dürfen: Die menschliche Solidarität. Die Offenheit und Freude, wenn jemand von aussen kommt und sich interessiert.
Mit der Digitalisierung haben Leute vor Ort die Möglichkeiten, sogar Bilder mit dem Handy zu machen. Es gibt sehr gute Fotografen, die dann ihre Bilder an weltweite Redaktionen weitergeben können. Ich finde: Es ist ihr Krieg, und sie sollen mit der internationalen Presse das Geschäft machen. Ich muss doch nicht das Leben riskieren in den Schützengräben im Donbass, wenn wunderbare ukrainische Fotografen schon erzählen, was passiert.
Wenn Corona eine Krise war, dann war es ein Vorgeschmack. Ich bin nicht pessimistisch, aber ich glaube, da wird einiges auf uns zukommen in den nächsten Jahren. Vielleicht gibt es die nächsten Jahre unter Donald Trump einen Bürgerkrieg in den USA – das kann sein. Donald Trump, der so sehr “Survival of the Fittest” vertritt, das Recht des Stärkeren. Elon Musk ist genauso drauf, das kann auch sein Spektrum sein, da kann er vielleicht nichts dafür. Aber zentral ist, dass mit den Schwächeren nicht mehr mitgefühlt wird. Eine wahre Demokratie macht es aus, dass man selbst in Krisen noch schaut, dass es den Schwächeren auch gut geht. Das finde ich wichtig. Ich bin momentan der Schwächere, der Geld bekommt. Aber ich bin auch der Stärkere, hoch privilegiert. Am Mittwoch stehe ich im Kino vor 120 Leuten, die applaudieren, mein Film wird auf der grossen Leinwand gezeigt. Wie geil ist das denn! Das ist auch dank der Förderung, wo man sagt: Gewisse Leute machen etwas, das wir als wertvoll anschauen, das soll honoriert sein.
Fabian Biasio