Ich komme aus der Ukraine und bin während des Krieges in die Schweiz geflohen. Ich war politisch in der Ukraine aktiv, bin stolzer Ukrainer und habe mich die letzten 20 Jahren für Menschenrechte und Arbeiterrechte und gegen Korruption engagiert. Aufgrund meines politischen Engagements habe ich Morddrohungen erhalten und musste die Ukraine verlassen.
Ich wurde mehrmals bedroht, habe einige Entführungsversuche überlebt und mein Eigentum wurde beschädigt. Um aus der Ukraine zu fliehen und mein Leben zu retten, war ich gezwungen, 50 Kilometer durch die Berge zu laufen. Ich habe mehr als sechs Tage gebraucht. Ohne Internet und GPS und ohne Zelt wanderte ich durch tiefe Wälder und Gebirgsbäche. Ich habe zwei grosse Gebirgsflüsse und vier Gebirgsketten überquert. Die Nacht verbrachte ich in tödlicher Kälte. Ich trank schmutziges Wasser aus Bärenspuren und leckte den Frost auf bis zu 1600 Meter hohen Bergen, um meinen Durst zu löschen. Ich wanderte durch das Bärenschutzgebiet, entlang der Pfade der Bären, und eines Tages hörte ich einen Bären schnarchen. Nachts legte ich meinen Schlafplatz mit grossen trockenen Ästen aus, um mich vor den Bären zu schützen.
Am sechsten Tag war ich sehr erschöpft, ich hatte keine Hoffnung, ich dachte, ich werde in den Bergen sterben. Niemand hat auf meine Hilferufe geantwortet. Ich hatte zwar einen Kompass, aber ich wusste nicht, wo ich genau war. So lief ich einfach weiter. Wenn ich stehen bleiben würde, wäre es mein Tod, dachte ich damals immer wieder. Am sechsten Tag regnete es stark und gleichzeitig bekam ich unerträgliche Schmerzen in meinem Knie. Ich wusste nicht mehr weiter… Ich bin einfach weitergegangen, auch wenn ich keine Kraft mehr hatte, sehr müde und hungrig war. Bei einen alten Holzwagen habe ein kleines Feuer gemacht und versucht zu schlafen und meine Klamotten zu trocknen. Am nächsten Mittag bin ich zu einem Grenzhaus, es war leer. Im Holzhaus daneben sass ein Mann, anscheinend ein Waldholzarbeiter, schwer betrunken. Als er mich sah, riss er die Augen auf, umarmte mich, küsste mich und sagte: “Komm, komm mein Freund, so viele Männer aus der Ukraine sind im Wald gestorben. Komm, bitte.”
Der Mann gab mir was zu essen. Ich fragte nach Wasser. Es war kein Wasser da, nur lokaler Wein. Kraftwein – ich bin direkt eingeschlafen. Als ich wieder aufwachte, standen ganz viele Arbeiter mich herum und starrten mich an. Sie strahlten mich an und freuten sich, dass ich da war. Alle waren sehr besorgt um mich und haben ihr Essen mit mir geteilt. Einer von ihnen hatte ukrainische Wurzeln und konnte Ukrainisch sprechen. Er zeigte mir Fotos seiner Familie und des Hauses, das er selbst gebaut hatte. Am nächsten Morgen bin ich mit den Arbeitern auf einer Draisine vier Stunden durch den dichten und tiefen Wald gefahren. Die Arbeiter haben mich ständig gefragt, ob ich OK oder hungrig wäre. Diese Männer waren sehr fürsorglich und herzlich. Noch nie habe ich solche Menschen fernab von jeglicher Zivilisation kennengelernt – so warme Herzen und so warme Seelen. Ich werde diese Männer nie vergessen. Ohne sie hätte ich wohl nicht überlebt und die Flucht in die Schweiz nie geschafft. An sie muss ich oft voller Dankbarkeit denken, wenn ich in der Schweiz bin.
Und selbst wenn ich weit weg von der Heimat bin, beschäftigt und belastet mich die aktuelle politische Diskussion in der Ukraine sehr, auch wenn ich nicht weiss, ob ich irgendwann wieder zurück kann.